Ansicht Doppelwohnhaus vom Architekten Le Corbusier in der Nacht

ArchitekturgeschichteWeissenhofsiedlung Stuttgart

15.12.2022von Hirsch & Greif

Musterhäuser mit neuer Formsprache

Mit der Weissenhofsiedlung in Stuttgart wurde 1927 Architekturgeschichte geschrieben: Le Corbusier und andere Avantgardisten planten dort Musterhäuser in einer völlig neuen Formensprache. Mehr über die Entstehung, die Architekten und die Besonderheiten ihrer Entwürfe erfährt man bei einer Führung.

Die „goldenen Zwanzigerjahre“ mit ihrer blühenden Kultur- und Kunstlandschaft bringen heute manchen zum Schwärmen. „Das Jahrzehnt war aber nur für ganz wenige golden“, sagt Herbert Medek bei seiner Führung durch die Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Über 500.000 Invaliden lebten nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Die Spanische Grippe hatte mindestens 300.000 Deutschen das Leben gekostet. Der Alltag war von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Hyperinflation und Arbeitslosigkeit geprägt. „Die Städte sind damals explosionsartig gewachsen, die Leute haben sich dort Verdienst, Freiheit und Zukunft versprochen, aber die Wohnungsnot war groß“, erklärt Fachmann Medek, der bis 2021 die Untere Denkmalschutzbehörde in Stuttgart geleitet hat. Außerdem ist er „Site Manager“, also Beauftragter für das UNESCO-Welterbe „Le Corbusier Häuser“ in Stuttgart.

Diese Wohnungsnot gab auch den Anstoß zur 1927 erbauten Weissenhofsiedlung. Mutige Menschen bei der Stadtverwaltung und beim Werkbund, einem Zusammenschluss von Architekten, Künstlern, Kunsthandwerkern und Unternehmern, ebneten den Weg für das Projekt, das etwas ganz Neues wagen sollte. Unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe entwarfen 17 Architekten aus dem In- und Ausland Häuser in einer radikalen Formensprache. Mit dabei auch Le Corbusier, der damals schon ein Star war. Seine beiden Bauwerke in der Weissenhofsiedlung mit ihren typischen Stützen, langen Fensterbändern und Dachgärten wurden 2016 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen – zusammen mit 15 weiteren Werken des Architekten.
Ein Mann steht vor einer Infotafel und gibt eine Führung durch eine Wohnsiedlung.
Um die Weissenhofsiedlung besser kennenzulernen, empfiehlt sich eine Führung.

Musterhäuser für ein neues Lebensgefühl

Auf dem städtischen Gelände lag damals nur ein Bauernhof, der Weißenhof. 1927 entstanden dort innerhalb weniger Monate 21 Musterhäuser mit 63 Wohnungen. Sie waren Teil der vom Deutschen Werkbund initiierten Ausstellung „Die Wohnung“, die von Juli bis September 1927 zu sehen war. Vor dem schlichten, von Mies van der Rohe entworfenen Mehrfamilienhaus zeigt Herbert Medek das Plakat zur Ausstellung: Das Foto eines mit Möbeln vollgestellten und mit Säulen dekorierten Wohnzimmers ist rot durchgestrichen, daneben steht die Frage „Wie wohnen?“. Die avantgardistischen Architekten gaben die Antwort: Weg von Prunk und Pracht, aber auch weg von stickigen Arbeiterquartieren, in denen sich Krankheiten ausbreiteten. Ihre Entwürfe reduzierten sie aufs Wesentliche, schufen helle, klare Räume und wollten nichts Geringeres als den Bewohnern ein neues, offenes Lebensgefühl geben. „Sie haben außerdem gezeigt, wie man rationell bauen und dadurch günstig Wohnraum schaffen kann“, sagt Herbert Medek.
Ansicht eines Gebäudes der Weissenhofsiedlung in Stuttgart.
Ein Mehrfamilienhaus in einer Wohnsiedlung
Beleuchtetes Wohnhaus in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart
Gut zu erkennen: der avantgardistische Stil des Architekten Hans Scharoun.
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Kritik an der Arabersiedlung

Die Weissenhofsiedlung wurde zum Vorbild des Neuen Bauens, in der Folge entstanden in Deutschland und Europa weitere Siedlungen. Doch es hagelte auch Kritik an der „Arabersiedlung“, wie Herbert Medek anhand einer Postkarte aus der Nazi-Zeit verdeutlicht: Sie zeigt Kamele und Menschen in weißen Gewändern zwischen den Gebäuden. Einigen Bauten wurden später Giebel aufgesetzt, auch von Abriss war die Rede.

Im Zweiten Weltkrieg wurden einige Häuser zerstört, drei weitere später abgerissen. Heute sind noch elf Originalgebäude übrig, darunter die beiden von Le Corbusier: ein Einfamilienhaus und ein Doppelhaus, das Interessierten heute als Weissenhofmuseum offensteht. In der einen Hälfte des Doppelhauses erfahren sie mehr über die Geschichte und Entstehung der Siedlung. In der anderen wurde der ursprüngliche Zustand des Hauses wieder hergestellt. Darin staunen Besucherinnen und Besucher über die von Eisenbahnwagen inspirierten schmalen Gänge und Le Corbusiers Konzept der flexiblen Raumaufteilung.

Die Weissenhofsiedlung selbst steht nicht auf der Welterbeliste. Inzwischen wurde ihr aber das Europäische Kulturerbe-Siegel verliehen – gemeinsam mit fünf weiteren Werkbundsiedlungen, die zwischen 1927 und 1932 in Europa gebaut wurden.
Ein Mann zeigt das Plakat einer Wohnungsausstellung.
Ansicht Doppelwohnhaus vom Architekten Le Corbusier in der Nacht
Reihenhäuser mit Vorgarten in einer Wohnsiedlung
Herbert Medek führt durch die Entstehungsgeschichte der Weissenhofsiedlung.
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Eine Führung gibt interessante Einblicke

Herbert Medek gehört zu denjenigen, die sich schon lange für den Schutz der Siedlung stark gemacht haben. Wer dort an seiner Seite unterwegs ist, kann dank seiner Schilderungen hinter die Fassaden blicken. Vor den schmalen Reihenhäusern von J. J. P. Oud aus Holland erzählt Medek, dass der Architekt zwei Eingänge für jedes Haus plante, um den Flur möglichst klein zu halten – mit festgelegter Rollenverteilung: Während der Mann von der Gartenseite her ins Haus kommen durfte, war der Eingang durch die Waschküche in die Küche für die Frau vorgesehen.

Zu jedem Gebäude kennt Medek eine Geschichte, auch zum gelben, viergeschossigen Terrassenhaus von Peter Behrens am Ende der Siedlung. Die Wohnungen werden nach oben hin kleiner, die Decken des jeweils darunter liegenden Geschosses zur Terrasse. „Heute ist es selbstverständlich, dass in einem Haus verschieden große Wohnungen liegen“, sagt Herbert Medek, „früher waren die Grundrisse der Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus aber immer dieselben. Dass Peter Behrens schon damals diese Idee entwickelt hat, finde ich faszinierend.“
Übersicht

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